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An der Orgel:
Stefan Kießling
Die Orgel
Eine kurze Chronik |
Das Klangkonzept |
Die Disposition |
In Portu Sacro (CD)
Eine kurze Chronik
1846
Erste Orgel aus der Potsdamer Orgel-Werkstatt Gottlieb Heise (1 Manual mit 5 Registern und angehängtem Pedal) auf Basis eines Gedackt 8‚-Registers und mittig in einem Schrank angeordneter Spielanlage.
1907
Veränderung und Erweiterung der Heise-Orgel im Sinne der Zeit durch Fa. Alexander Schuke, Potsdam (führt die Werkstatt Heises unter eigenem Namen weiter). Das Instrument erhält u.a. einen offenen Prinzipal 8‚ für den Prospekt (Schauseite der Orgel) und ein eigenständiges 16‚-Register für das Pedal. Die längsten Pfeifen im Werk sind nun doppelt so lang wie ursprünglich. Deshalb werden die beiden das Gehäuse flankierenden Pfeifentürme auf die heutige Höhe gebracht (Foto). Außerdem werden die mechanischen Schleifladen durch pneumatische Kegelladen ersetzt.
1941
Januar: Pläne für eine Erweiterung des Instruments zu einer konzertfähigen Orgel werden infolge des begonnenen 2. Weltkrieges verworfen.
Mai: Beschädigung der Kirche durch FLAK-Beschuss, Teile des Pfeifenwerks und des Gehäuses werden von der Empore in das Kirchenschiff geschleudert.
September: Berichte über die völlige Zerstörung der Orgel. Lediglich das Zuluft-Gitter der Balgkammer in einem Zwischenboden bleibt erhalten.
1961
Dezember: Technische Substanz und Gehäuse fallen zusammen mit der übrigen Innenausstattung der Kirche mutwilliger Zerstörung zum Opfer.
1989
November: Fall der Berliner Mauer
1990
Die Instandsetzung und Restaurierung der Heilandskirche wird in die Wege geleitet.
1990 bis ca. 2000
Bemühungen für eine Wiederbeschaffung einer Orgel gestalten sich schwierig. Unter anderem im Wasser der Havel werden Fragmente gefunden, die dem Gehäuse der ursprünglichen Orgel zugeordnet werden können. Nach Ansicht der Denkmalbehörden reichen diese jedoch für eine Rekonstruktion nicht aus.
Die Kirchengemeinde beauftragt Prof. Ernst Bittcher von der Orgelbaufirma Karl Schuke (Berlin-Zehlendorf) mit einer Forschungsarbeit zum originalen Escheinungsbild des Instruments. Das Ergebnis fließt ein in ein plastisches 1:1 Modell, das auf der Empore aufgestellt wird und bis 2009 dort verbleibt. Die Realisierung als klingende Orgel scheitert jedoch weiterhin an den Vorstellungen der Denkmalpfleger. Zudem erweisen sich eingeholte Angebote für einen Orgel-Neubau zunächst als nicht finanzierbar.
Der Gemeindegesang in den ab 1994 wieder aufgenommenen Gottesdiensten bleibt unbegleitet oder erfolgt mit Hilfe eines E-Pianos.
2002
Gründung des Fördervereins
„Ars Sacrow e.V.“, der die Bemühungen für einen Orgel-Neubau aktiv unterstützt und intensiviert. Pläne und Konzepte für ein Instrument werden konkreter.
2003
Ausschreibung für einen Orgel-Neubau an die Firmen Alexander Schuke (Potsdam), Karl Schuke (Berlin) und Kristian Wegscheider (Dresden)
2004
Der Verein „Ars Sacrow e.V.“ initiiert die Spendenaktion „Jede Pfeife braucht einen Paten“.
Mai: Die Konzepte der an der Ausschreibung beteiligten Orgelbaufirmen werden der Öffentlichkeit in der Heilandskirche durch den Orgelsachverständigen der Landeskirche vorgestellt und diskutiert.
2006
Oktober: Vertragsabschluss mit der Orgelbaufirma
Kristian Wegscheider (Dresden) für den Neubau einer 2-manualigen Orgel mit 17 Registern und Pedal in einer Prospekt-Rekonstruktion, die dem Zustand vor der Zerstörung möglichst nahekommt. Um ausreichend Platz für die gegenüber dem ursprünglichen Instrument deutlich vergrößerte Pfeifen-Anzahl zu schaffen, wird beschlossen, den Spieltisch seitlich neben dem Gehäuse aufzustellen.
2009
März: Demontage der Papp-Attrappe und Einbau der Windanlage in der Balgkammer unter der Empore
Mai: Ankunft der ersten Pfeifen für die neue Orgel auf dem Wasserweg an Bord eines Segelboots.
Juni: Indienstnahme der Wegscheider-Orgel durch Kantor Matthias Trommer in einem großen Festgottesdienst und anschließenden Festkonzerten. Aus Kostengründen zeigt sich das Gehäuse zunächst in unbehandeltem Holz.
2010
Die großzügige private Spende des Ehepaars Ilse und Klaus Pracht erlaubt überraschend die Farbfassung des Gehäuses. Die Arbeiten führt Restaurator
Ulrich Schneider aus, der auch bereits für die farbliche Rekonstruktion des Innenraums verantwortlich war. Die Palmettenkronen auf den Pfeifentürmen und die plastischen Arabeskenfriese werden von Katrin Bonk aus Alabasterstuck gefertigt. Zum Osterfest zeigt sich die Orgel in seiner zunächst endgültigen Gestalt. Allein auf den Engelskopf auf der Spitze des zentralen Giebelfeldes muss vorläufig verzichtet werden, da für eine Rekonstruktion keine Vorlage zur Verfügung steht.
Das Klangkonzept
Als 1990 der Beschluss zur Rekonstruktion des Kirchenraumes gefasst wurde, stand außer Frage, dass auch die Orgel wiederhergestellt werden sollte. Priorität genoss aber zunächst die Rekonstruktion des Innenraumes. Erst nach dessen weitgehenden Abschluss Ende der 1990er Jahre konnten die Kriterien für ein neues Instrument festgelegt werden. Damit sollte nicht nur den denkmalpflegerischen Aspekten Genüge getan werden, sondern auch musikalisch der Einzigartigkeit des Bauwerks. Deshalb war die Kreativität des Orgelbauers in besonderer Weise gefordert.
Der mit dem Neubau beauftragte Orgelbaumeister Kristian Wegscheider hat sich dabei im Wesentlichen von vier Überlegungen leiten lassen:
1. Äußerlich erscheint die Heilandskirche wie eine „italienische“ Basilika, in ihrem Innern präsentiert sie sich jedoch wie eine schlichte „preußische“ Saalkirche im klassizistischen Stil.
2. Mit seiner kurzen Nachhallzeit eignet sich der Kirchenraum besonders gut für Kammermusik.
3. Die stilistische und ästhetische Sonderstellung des Bauwerks sollte seine musikalische Entsprechung in einem unverwechselbaren Klangcharakter der Orgel finden.
4. Weil man sich bei der Wiederherstellung des Innenraumes sorgfältig am Ur-Zustand der Kirche orientiert hat, sollte auch die Orgel mit ihrem Erscheinungsbild dem ihres Vorgänger-Instruments so nahe kommen wie möglich. Darüber hinaus sollte die Orgel aber über eine klangliche Vielfalt verfügen, die ihren Einsatz als modernes Konzert-Instrument erlaubt.
Daraus entwickelte sich das Konzept einer zweimanualigen Orgel, die auf ihren beiden Klaviaturen die zwei Welten der Kirche klanglich nachzeichnet. So entstand – mit etwas „Augenzwinkern“ – ein Instrument mit einem „preußischen“ Manual, das die kräftigen, bassbetonten Stimmen enthält (Principal und Gedackt 8‚, Octave und Rohrflöte 4‚, sowie Nasat, Flöte 2‚ und Terz) und einem „italienischen“ Manual, dem die gesanglichen, hellen, obertönigen Stimmen zugeordnet sind (Prinzipal amabile 8‚, Voce umana 8‚ als Schwebung, Flauto 4‚, Octava 4‚, Octava 2‚, Quinta 1⅓‚, Octava 1‚ und ½‚, Quinta ⅔‚). Dazu ein Subbass 16‚ für das Pedal.
Mit der Prinzipal-Schwebung „Voce Umana 8‚“ erhielt die Orgel ein typisches Register für italienische Instrumente des 16. bis 18. Jahrhunderts. Es handelt sich dabei um eine Pfeifenreihe derselben Bauweise und Klangfarbe wie der „Prinzipal amabile 8‚“ im gleichen Manual. Allerdings sind die Pfeifen der „Voce umana“ (deutsch: „menschliche Stimme“) leicht gegen die übrige Orgel „verstimmt“, so dass sich im Zusammenklang eine Schwebung, also eine Art natürliches Vibrato, ergibt.
Auf Zungenstimmen musste in der Disposition verzichtet werden. Die Sonneneinstrahlung durch das Rundfenster unmittelbar hinter der Orgel hätte besonders bei Pfeifen dieser Bauweise zu häufiger Verstimmung geführt. Einen kleinen Ausgleich für das Fehlen kräftiger Lingual-Register schafft das 3-fache Cornett, welches man im 1. Manual sozusagen als „labiale Zunge“ aus Nasat, Terz und Flöte 2’ zusammenstellen kann. Auf die gleiche Weise erhält man im 2. Manual auch die Möglichkeit, die hohen Prinzipale und Aliquoten sehr flexibel zu unterschiedlichen Mixtur-Klängen zu kombinieren. Mit einem sogen. „Ripieno-Zug“ lassen sich mit einem Griff einige Einzelregister als feste Mixtur gemeinsam ein- und wieder ausschalten.
Um noch mehr musikalische Gestaltungsmöglichkeiten zu erhalten, verfügt die Orgel über mehrere sogen. Wechselschleifen. Damit können ausgewählte Register des einen auch vom jeweils anderen Manual aus gespielt werden.
Der geringe Platz im Orgelgehäuse erlaubt leider nur ein einziges eigenständiges Register für das Pedal, den Subbass 16‚. Durch die Verwendung von Wechselschleifen können aber die Register Principal 8‚ und Octave 4‚ des 1. Manuals auch im Pedal verwendet werden.
Mit der „Rossignol“ (Nachtigall) verfügt die Orgel über ein reines Effekt-Register. Es besteht aus zwei sehr kurzen, hoch klingenden Pfeifen, die in ein kleines Gefäß mit Wasser getaucht sind. Durch den Anblas-Wind entstehen (ähnlich wie bei dem Kinderspielzeug aus alter Zeit) Wasserblasen, was einen Ton erzeugt, der einem zwitschernden Vogel ähnlich ist. Koppeln vom Manual I auf das Manual II sowie vom Pedal auf Manual I und ein Tremulant für einen Vibrato-Effekt komplettieren die Disposition.
Nicht ganz einfach war die Entscheidung über die Stimmtonhöhe und die Stimmungsart (Temperatur). Eine italienisch orientierte Orgel in der historischen Stimmung von 415 Hz und mitteltöniger Temperatur wäre aus rein künstlerischer Sicht natürlich ein Traum gewesen. Um jedoch möglichst wenig Probleme beim Zusammenspiel mit modernen Instrumenten zu bekommen und das Repertoire spielbarer Literatur nicht allzu sehr einzuschränken, wurde auf eine historische Stimmung verzichtet. Das Instrument steht daher auf dem heute üblichen Kammerton von a’ = 440 Hz bei einer leicht modifizierten gleichstufigen Stimmung nach Neidhardt. Sie erlaubt noch das Musizieren in sämtlichen Tonarten, ohne dabei unterkühlt zu wirken.
Die Disposition
I. Manual C–f’’’ (in brandenburgischer Manier)
1. Principal 8’ (WS mit Pedal) - M, Prospekt
2. Gedackt 8’ (WS mit 2. Manual) - H
3. Octave 4’ (WS mit Pedal) - Metall
4. Gedacktflöte 4’ (WS mit 2. Manual) - H/M
Flauto 4’ (WS mit 2. Manual) - M
5. Nasat 3’ - M
6. Flöte 2’ - M
7. Terz 1 3/5’ - M
II. Manual C–f’’’ (in italienischer Manier)
8. Principal amabile 8’ H
Gedackt 8’ (WS mit 1. Manual) - H
9. Octava 4’ - M
10. Flauto 4’ (WS mit 1. Manual) - M
Gedecktflöte 4’ (WS mit 1. Manual) - H/M
11. Octava 2’ - M
12. Quinta 1⅓ (bei fis’’ repetierend) - M
13. Ocatva 1’ (bei cis’’ repetierend) - M
14. Quinte 2/3’ (bei fis’ und fis’’ repetierend) - M
15. Octava ½’ (bei cis’ und cis’’ repetierend) - M
16. Voce Umana 8’ (ab f°) - H
Pedal C–d’
17. Subbaß 16’ - H
Prinzipal 8’ (WS mit 1. Manual) - M
Octave 4’ (WS mit 1. Manual) - M
WS = Wechselschleife | H = Holz-Pfeife | M = Metall-Pfeife
Spieltisch seitlich, Schleifladen, mechanische Spiel– und Registertraktur
Manualkoppel, Pedalkoppel, Ripienozug
Tremulant zum ganzen Werk und Rossignol, Winddruck ca. 60 mm WS
Stimmung: Neidhardt I („für das Dorf“, 1724), a = 440 Hz bei 18°C
Prospekt und Gehäuse rekonstruiert nach Forschungsergebnissen von Prof. Ernst Bittcher über die Gestalt der ursprünglichen Orgel des Potsdamer Orgelbaumeisters Gottlieb Heise aus dem Jahre 1846.
Die Konsolen für die Pfeifentürme wurden hergestellt im Drechselzentrum Erzgebirge (Inh. Roland Steinert), 09526 Olbernhau
Orgelbauwerkstatt Kristian Wegscheider, Bauernweg 61, 01109 Dresden
Gestaltung:
Programmierung:
Stefan Kießling
Zuletzt aktualisiert: 28.03.24 21:18 Uhr